[first published on Senfblog.de January 4th, 2013]
Da ich letzte Woche keine Kritik veröffentlicht habe und mir Urlaub in der heimlichen Hauptstadt Polens gegönnt habe, gibt es diese Woche gleich zwei Reviews und dieses Mal ein ganz besonders exquisites Schmankerl, da „Jagten“ erst am 28. März 2013 in die deutschen Kinos kommen wird. Thomas Vinterberg ist vor allem für sein Meisterwerk „Festen“ („Das Fest“, 1998) bekannt, der der Vorzeigefilm der Dogma 95-Bewegung ist und in seinem kontroversen Thema seinem neuem Film sehr ähnlich ist. Damals ging es um Kindesmissbrauch in der Familie aus der Sicht des Opfers, dieses Mal geht es um Kindesmissbrauch aus der Sicht eines beschuldigten Täters. Zwischen „Festen“ und seinem neuesten Film hat der dänische Regisseur drei weitere Kinofilme gedreht: den komplett unterschätzten „It’s all about Love“ (2003) mit Joaquin Phoenix und Claire Danes, den misslungenen „Dear Wendy“ (2004) mit Jamie Bell und dann die rein dänische Produktion „Submarino“ (2010), mit der er wieder an alte Erfolge sowohl bei Publikum als auch Kritikern anknüpfen konnte. Spätestens mit „Jagten“ hat sich Thomas Vinterberg erneut in die erste Liga der europäischen Regisseure katapultiert. Das Drama ist trotz ein paar Abstrichen eine sehr gelungene Abhandlung über Moral, Schuld und die Macht des gesprochenen Worts mit einem grandiosen Mads Mikkelsen in der Hauptrolle. Der Film gewann bereits den Darstellerpreis für Mikkelsen in Cannes und den europäischen Filmpreis für das beste Drehbuch 2012.
Lucas (Mads Mikkelsen, „Nach der Hochzeit“), 40 Jahre, ist Kindergärtner in einer dänischen Kleinstadt und scheint gerade sein Glück gefunden zu haben. Er hat eine neue Freundin und sein Sohn Marcus (Lasse Fogelstrom,) möchte zum ersten Mal nach der Scheidung bei ihm Leben. Das kleine Mädchen Klara (Annika Wedderkopp), die in Lucas Kindergarten und die Tochter seines besten Freundes Theo (Thomas Bo Larsen, „Festen“) ist, beschuldigt eines Tages Lucas sie sexuell angegangen zu haben. Vorher hatte sie sich ihn verliebt und er ihre kindlichen Schwärmereien vorsichtig versucht zu bremsen. Nach der Anschuldigung, die sich wie ein Lauffeuer verbreitet, wird Lucas zum krassen Außenseiter in der Kleinstadt und eine regelrechte Jagd beginnt. Mehr und mehr in die Enge getrieben versucht Lucas alles um seinen Ruf zu schützen und die Gesellschaft von seiner Unschuld zu überzeugen. Die Angriffe auf den Mann werden heftiger und nur noch wenige glauben an seine Schuldlosigkeit. SPOILER ALERT Nachdem Lukas Weihnachten in die Gemeindekirche geht und Theo vor allen konfrontiert, kommt es noch in der Nacht zum ersten klärenden Gespräch der beiden Freunde. Dann wird im Epilog die Handlung ein Jahr später fortgesetzt: Lucas scheint wieder integriert in die Gemeinschaft und geht gemeinsam mit seinen Freunden und seinem Sohn auf eine Jagd im Wald. Gerade als er einen Hirsch entdeckt und auf das Tier zielt wird von einem unbekannten Schützen direkt neben Lucas geschossen, so dass klar wird, dass die Jagd nie zu Ende sein wird und einige nicht vergessen werden.
Vinterberg konzentriert seinen Film komplett auf Lucas, den vermeintlichen Täter. Obwohl eigentlich durch die Handlung klar ist, dass er die kleine Klara nicht angegangen hat, kommt man auch als Zuschauer nicht umhin, sich über die Schuldfrage den Kopf zu zerbrechen. Sehr gekonnt wird verdeutlicht, wie schwer alleine die Anschuldigung eines solchen Verbrechens wiegt. Am Ende ist deutlich, ein solcher Verdacht lässt einen bzw. die anderen nie los. Die Wandlung Lucas vom beliebten und geschätzten Stadtmitglied zum gehassten und ausgestoßenen Außenseiter passiert schnell und kompromisslos. Vinterberg macht durch ein paar kleine Szenen klar, was überhaupt diese Gedanken in den Kopf des kleinen Mädchen befördert hat; ein Porno auf dem Tablet-Computer des großen Bruders und ein paar unflätige Worte verbinden sich in der kindlichen Wut zu einer Anschuldigung, die extrem schnell ein Eigenleben bekommt und außer Kontrolle gerät. Wenn der Stein erst Mal ins Rollen gekommen ist, dann ist er kaum noch aufzuhalten, da solche Beschuldigungen für ewig haften bleiben. So versucht Klara sogar nach einiger Zeit zu sagen, dass sie gelogen hat, doch die Erwachsenen glauben ihr nicht mehr. Mikkelsen spielt den Kindergärtner Lucas als sympathischen und verzweifelten ganz normalen Mann wie du und ich und drückt nie zu viel auf die Emotionsdrüse. Mikkelsen macht scheinbar so wenig, aber das so gut, dass er dem stillen Lucas ein ungeheure Tiefe gibt und den brutalen Ausbruch am Ende so nachvollziehbar macht. Von dem ersten Moment in dem er von der Bezichtigung hört bis zum ersten Übergriff auf ihn steigert sich seine Verzweiflung langsam aber stetig und Vinterberg schafft es uns Zuschauer trotz der großen Empathie, die man zunächst empfindet selbst auf die Seite der Zweifler zu schicken. Kann es nicht vielleicht doch sein, dass dieser nette Nachbar Klara angefasst hat? Selbst der eigene Sohn fängt an zu zweifeln unter der Last einer solchen Verdächtigung. Wie schon Großmeister Kurosawa in „Rashomon“ verdeutlicht der Däne hier, zwar eher beiläufig aber mit fast noch schwererem Gewicht, wie Erinnerungen sich unterscheiden und verändern und gerade bei Kindern Fantasie und auch der Einfluss von Erwachsenen eine Rolle spielt. Der Film erzählt bis zum Klimax und dem kompletten Ausbruchs Lucas, der selbst seine eigenen Regeln vergisst und erst so das Gespräch zu Theo, dem Vater des vermeintlichen Opfers findet. Danach setzt die Handlung ein Jahr später fort und Vinterberg verzichtet dadurch ganz bewusst auf einen sehr interessanten Teil einer solchen Geschichte, dass „Wie wird man solche Anschuldigungen wieder los?“. Wir erfahren nur, dass Lucas trotz einiger seltsamer Blicke ein Jahr später wieder voll integriert zu sein scheint (zumindest bei fast allen). So wie „Jagten“ aufgebaut ist, ist es schwer sich nicht diese Frage zu stellen, da der Plot sonst so sehr darum geht, wie die Gesellschaft jemanden ausschließt und was eigentlich den Kreislauf aus Anschuldigung und Ausschließung ausmacht, zu dem auch in diesem Fall Wiedereingliederung gehört. In dem Film gibt es keine wirklichen Gegner, da die Stadtbewohner die Lucas Haus bewerfen und den Hund töten oder auch der Schütze am Ende gesichtslos bleiben und man andererseits die Menschen die ihn ausschließen verstehen kann, weil ein solches Verbrechen nun mal so schwer wiegt als andere. In Zeitungen liest man von Lynchjustiz in Gefängnissen gegenüber Kinderschändern, von bewachten Tätern die in der Nähe von Hamburg wohnen und täglich von einer Schar Rentnern mit Schildern begrüßt werden; das Vergehen an Kindern ist ein Verbrechen was wie kein anderes bewertet und von allen Kreisen geahndet wird. Bei keiner Tat wird so laut nach unrechtlichen Bestrafungen geschrien, wie bei dem Vergehen am unschuldigen jungen Kind. Vinterberg spielt genau mit diesem Bewusstsein was wir alle haben und zwingt uns, egal wie intelligent oder gebildet wir sein mögen, in Rollen hinein, die wir in der Diskussion am Küchentisch oder auf dem Papier ganz anders besetzen würden. Er macht uns zu dem Nachbar, dem Bäcker, dem Steinwerfer; der gesichtslosen Masse.
Visuell hat „Jagten“ leider im Gegensatz zum Inhalt einige Schwächen, die dem ganzen Film wirklich schaden. Der Film ist in HD gedreht worden auf einer Alexa Digital Kamera und hat leider einen teilweise schrecklich TV-Studio-anmutenden Look. Die Räume wirken oft sehr künstlich eingerichtet und das Licht sieht mehrmals extrem nach Scheinwerfer aus. Diesen Soap-Effekt verdanken wir der digitalen Film-Aufnahme-Technik, die hier wieder ein Mal die wirklich falsche Wahl war. Bei dem neuesten James Bond, „Skyfall“ (auch auf der Alexa gedreht), funktionierte der Look durch eine entsprechend aufwendige Post-Produktion, die das Digitale verschleiert (Warum man dann nicht auf Filmmaterial dreht wird, ist mir ein Rätsel, da digital keinen Cent günstiger ist?). Durch die hohe Auflösung fallen bei „Jagten“ sehr viele unnötige Dinge auf: Der angeklebte Bart von Thomas Bo Larsen, alias Theo, dem besten Freund oder das Fake-Blut von Lucas nach dem er im Supermarkt geschlagen wird. Vielleicht war es auch einfach eine Frage des Budgets und es fehlte das Geld für die Post, aber dennoch ist dies nicht zu entschuldigen, da man dann einfach auf Filmmaterial hätte drehen müssen. Die Kamera erinnert in Momenten an die Dogma-Filme und wir sind als Zuschauer ganz nah dran wenn Mikkelsen mehr und mehr bricht unter dem Druck. Dogma 95 wurde auf Video gedreht, also auch nicht auf Film, aber hatte jedoch durch die geringe Auflösung einen körnigen Look, der der Authentizität zugetragen hat und den Effekt verstärkte. Hier hat die technische Übersetzung den Inhalt weniger zugänglich gemacht und wirklich weggenommen von dem Seherlebnis, da man immer wieder damit konfrontiert wurde einen Film zu sehen. Die Mischung aus nahen Handkameraaufnahmen und weiten ruhigen Gemäldeartigen Landschaftsaufnahmen beim Jagen und in der Stadt funktionierte trotzdem und so ist es sehr schade, dass nur durch die Wahl des Aufnahmemediums so viel verschenkt wurde.
Alles in allem ist „Jagten“ trotz der technischen Defizite ein sehr gelungenes Drama mit einem groß aufspielendem Mads Mikkelsen, der sich wieder Mal als einer der bedeutendsten Schauspieler der Neuzeit bewies. Hätte der Film die technischen Mankos nicht gehabt und hätte er es geschafft noch mehr auf das Aftermath, die Folgen bzw. das Nachspiel einzugehen, und uns nahe gebracht, wie schwer es ist auch wieder rein zu kommen in die Gesellschaft, dann wäre „Jagten“ ein Meisterwerk. So ist es ein sehr guter Film, der vor allem wegen Mikkelsen in Erinnerung bleiben wird. Wenn ich an andere Missbrauchsfilme denke, kommt mir sofort der erschreckend gute, aber komplett andere österreichische Beitrag „Michael“ (2011) in den Sinn und ich muss sagen, dass es gut ist, dass das Kino sich mehr und mehr auch den ganz kontroversen Themen zuwendet und sie dadurch in den Diskussionsumlauf bringt. Vinterberg hat uns mit „Jagten“ die Persepektive eines fälschlich Beschuldigten gegeben und das ist ein Thema mit dem wir uns nicht erst seit dem Polzei– und Medienfiasko von Emden mehr auseinander setzen müssen.